Politik zum Anfassen

Politik zum Anfassen

Es war ein Speed-Dating der besonderen Art, das 60 Zwölftklässler der August-Hermann-Francke-Schule (AHFS) nun erlebt haben: Sechs Landtagsabgeordnete aller Fraktionen des Hessischen Landtags diskutierten mit den Oberstufenschülern auf Augenhöhe an sogenannten Thementischen über Fragen, die den jungen Erwachsenen unter den Nägeln brannten. So ging es an einem Tisch beispielsweise um Energiepolitik, bei einem anderen um die Verkehrswende. Auch wurde die Flüchtlingsfrage diskutiert oder über die Wehrhaftigkeit des deutschen Staates gesprochen. Alles jeweils nur zehn Minuten lang, dann wechselten die Abgeordneten die Tische. Möglich machte dieses besondere Aufeinandertreffen das Projekt »dialogP« (siehe Infokasten).

»Soll das Auto zugunsten des ÖPNV abgeschafft werden?«, hieß es am ersten Thementisch. Keiner der sechs Politiker konnte sich wirklich vorstellen, auf das Auto zu verzichten. »Klar ist für uns aber, dass der Anteil des Individualverkehrs deutlich sinken muss und eine Verkehrswende nötig ist«, betonte Katrin Schleenbecker von den Grünen. »Der ÖPNV ist für viele zu teuer und schlecht getaktet«, warf Schülerin Giulia ein. »Ja, wir brauchen dafür mehr On-demand-Verkehre«, entgegnete wiederum die Politikerin. Mit dem Schülerticket in Hessen, dem bundesweiten 49-Euro-Ticket und dem in Hessen geplanten vergünstigten Ticket für Menschen mit geringem Einkommen komme man aber dem Ziel, Mobilität für alle zu ermöglichen, einen Schritt näher.

»In den Städten sind alternative Modelle zum Auto sicher machbar und sinnvoll«, meinte Thomas Schäfer von der FDP. Auf dem Land sehe das anders aus. Er setze darauf, »multimodale Ketten zu schaffen«, die alle Verkehrsformen sinnvoll einbinden. Das 49-Euro-Ticket sei sicher ein Weg, den man gehen könne. Denn: »ÖPNV soll attraktiv sein, aber nicht umsonst.«

Für Nina Heidt-Sommer (SPD) steht die Bezahlbarkeit des ÖPNV im Vordergrund. »Das ist eine Frage der sozialen Teilhabe.« Das Auto spiele weiterhin im ländlichen Raum eine wichtige Rolle, solange in den ÖPNV nicht massiv investiert werde. »In vielen Kreisgemeinden hat sich da in den vergangenen 30 Jahren kaum etwas verändert», so die Beobachtung der Sozialdemokratin. »Geld für Veränderungen ist da, es muss im Haushalt nur entsprechend anders verteilt werden.«

Am Nachbartisch ging es darum, ob Deutschland Flüchtlinge aus Syrien und der Ukraine in Zukunft gut integrieren könne. Robert Lambrou (AfD) kann es nachvollziehen, Menschen aus moralischer Verpflichtung aufzunehmen »Aber ich finde es sinnvoller, den Menschen vor Ort zu helfen«. Deutschland habe nur begrenzte Möglichkeiten, »um so viele Menschen unterzubringen«. Auf die Bemerkung von Schüler Jason, dass viele Geflüchtete ja arbeiten wollten, aber durch Verzögerungen in der Bürokratie zu lange warten müssten, erwiderte Lambrou: »Das können wir momentan gar nicht ändern, weil es in allen Kommunen derzeit Personalmangel und Überforderung gibt.« Er mache den Menschen, die aus Not kämen, keinen Vorwurf, sagte der AfD-Mann. »Aber wir sollten uns zuerst um unsere eigenen Bürger kümmern.«

Deutschland sei moralisch verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen, unterstrich Michael Ruhl von der CDU. Der Staat nehme die Aufgabe, sie zu integrieren, sehr ernst. In dieser Hinsicht habe sich seit den 2000er Jahren auch eine Menge getan. Auf die Frage eines Schülers, ob man es in der Politik nicht verstehe, dass niemand einen tausende Kilometer langen Fluchtweg »aus Spaß« auf sich nehme, versicherte Ruhl: »Natürlich verstehe ich, dass das niemand einfach so macht.« Er sei selbst sehr heimatverbunden. Kriegsflüchtlinge solle Deutschland auf jeden Fall immer aufnehmen. In anderen Fällen sei es wichtig, in den Herkunftsländern eine Bleibeperspektive zu schaffen und »das historisch gewachsene Wohlstandsgefälle zu verringern«.

Nach den Speed-Datings fassten die Schülerinnen und Schüler die gehörten Pro- und Contra-Argumente zusammen, um sie gemeinsam dem Plenum vorzustellen. Dann stimmten die Oberstufenschüler selbst über die sechs an die Politiker adressierten Fragen mit Pro- und Contra-Kärtchen ab. Bereits im Vorfeld des Austauschs hatten sich die Schülerinnen und Schüler mit den Fragestellungen im Politik-Unterricht intensiv auseinandergesetzt, um sich einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten und ihn auch vertreten zu können. Leicht war es ihnen nicht immer gefallen, wie sie nach der Veranstaltung resümierten.

»Manche Abgeordneten haben einen langen Monolog gehalten, man kam mit seinen Fragen nicht so richtig durch«, meinte einer. »Wir haben Dinge gehört, die uns gefallen haben – und teilweise auch nicht«, sagten Emil und Luis. Einige Aussagen hätten sie dabei überrascht. Beeindruckt waren die beiden, dass alle Politiker extrem redegewandt und auf jedes Thema gut vorbereitet waren.

Geändert habe sich ihre jeweilige politische Meinung dadurch aber nicht grundsätzlich. »Mir haben tatsächlich die Antworten des Kandidaten am besten gefallen, mit dessen Partei ich auch sympathisiere«, so der 18-jährige Emil. Wählen könne er bei der anstehenden Landtagswahl im Herbst das erste Mal. »Das mache ich auch auf jeden Fall.« PoWi-Lehrerin Gabriele Gessner, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Stefan Ulbrich das Projekt von schulischer Seite begleitet hat, zeigt sich sehr zufrieden. »Für die Schüler war es schon etwas Besonderes, mit den Politikern in den Dialog zu treten und sich darin zu üben, ihre Meinung zu vertreten.« Auch Schülerin Melanie zieht ein positives Fazit. »Manche Vorurteile, die ich gegenüber bestimmten Parteien hatte, haben sich nicht bestätigt«, räumt sie ein. Die Politiker hätten aber auch nicht reine Partei- und Wahlfloskeln von sich gegeben, sondern ihre persönliche Meinung gesagt, was sie gut fand. Sie werde sich nun auf jeden Fall mehr mit Politik und den Parteien beschäftigen. Wählen gegangen ist sie übrigens gleich am Sonntag. Denn die 18-jährige Lindenerin konnte bei der Bürgermeisterwahl erstmals ein Wahlkreuzchen setzen.

Gießener Anzeiger | 13.3.23 | Sonja Schwaeppe

 

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